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Hunger von dina3 | photocase.de Das (fast) erste Wort

Das (fast) erste Wort… das Gott über Dich sprach: „Du bist sehr gut gemacht!“ Aber was passierte dann?

Ich habe die Stimme Gottes gehört. Ich habe schon immer geglaubt, dass Gott immer zu uns und zu jedem redet. Dass er die leiseste und sanfteste Stimme in uns ist. Die, die wir mühelos überhören und zur Seite schieben können.

Ich habe auch schon lange geglaubt, was ich da hörte: „Du bist sehr gut gemacht!“ (1) So wie es der Psalmist ausdrückt: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“ (2)

Dieses fast erste Wort, das Gott über uns sprach, ist kein altes, vergessenes Wort, sondern eins, das in uns nachhallt. Heute. Jetzt. In jedem Moment. In jedem Menschen.

Das fast erste Wort… das Gott über Dich sprach: „Du bist sehr gut gemacht!“ Aber was passierte dann?

Ich weiß es nicht genau, obwohl ich danach schon so lange frage. Ich habe in den letzten Tagen ein Wort gefunden, das mich beschreibt: IRRITATION. Es beschreibt diesen Grundzustand meiner Seele und meines Geistes. Ich weiß, dass ich sehr gut gemacht bin, aber meine Wahrnehmung, meine Erfahrungen sagen mir etwas anderes. Vermutlich bin ich durch meine Geschichte an dieser Stelle empfindlicher als andere, vielleicht auch nicht. Ich weiß nur, dass die Wahrnehmung unterschiedlicher, sich widersprechender Signale mein Leben und mein Denken bestimmte.

Da ist auf der einen Seite dieses „Du bist sehr gut gemacht!“ und auf der anderen Seite das böse Wort „denn alles, was entsteht, Ist wert, dass es zugrunde geht; Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.“ (3) Wie auch immer es genau in diese Welt gekommen ist.

Dieses andere Wort hat das fast erste Wort in uns verzerrt. Wir hören nicht mehr: „Du bist sehr gut gemacht!“ Wir hören etwa: „Du musst sehr gut sein!“ und wir fangen an, uns furchtbar anzustrengen. Wir geben alles dafür, dieses Wort zu erfüllen und laufen dabei doch nur wie ein Hamster in einem Hamsterrad.

Oder wir hören: „Ich habe ein Recht darauf, sehr gut zu sein und dementsprechend behandelt zu werden.“ Wir kämpfen dann mit aller Macht darum, dieses Recht einzuklagen. Oder wir starten einen Rachefeldzug gegen alle, die uns anders behandeln. (4)

Ich glaube, dass jeder darum weiß, dass er etwas Besonderes, eben etwas sehr Gutes sein sollte – und dass es ihn deswegen so sehr empört, wenn er es nicht erlebt und anders behandelt wird. Warum sollten wir gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt aufstehen, wenn wir und damit jeder etwas Besonderes sein sollte? Warum sollten wir Gott unser Leid und das der Welt klagen, wenn wir im Grunde bedeutungslos wären?

Es ist, weil wir dieses Wort noch immer in uns hören und weil wir etwa irritiert sind, weil es sich ganz und gar nicht mit unserer Wahrnehmung deckt. Oder es ist, weil wir es nicht ertragen, dieses Wort in uns zu hören und es doch nicht erfüllt zu sehen. Wir drehen dann durch und ringen um Aufmerksamkeit, kämpfen um unsere führende Stelle, rächen uns für das Vorenthaltene oder geben einfach auf und sacken in uns zusammen. (5)

Was hörst Du? Ich sollte jemand Besonderes sein? Ich muss jemand Besonderes sein?

Ich habe die Stimme Gottes gehört. Unter all diesen blechernen und verzerrenden Worten von „ich sollte“ und „ich muss“ habe ich das ursprüngliche Wort gehört: „Ich bin wunderbar und sehr gut gedacht.“ Ich habe das ursprüngliche Wort herausgehört, das blechern und verzerrt worden ist, als es von meinen Erfahrungen und Wahrnehmungen widerhallte.

Dieses Wort hat Folgen. In mir arbeitet es gerade. Da gibt es Einstellungen, Muster und Lebenslügen, die korrigiert werden. Wenn ich nicht mehr etwas sein muss oder etwas sein soll, sondern bereits etwas bin, dann verändert sich mein Leben.

Dieses Wort hat Folgen, nicht nur Gute: Die jüdische Auslegung erzählt von drei Menschen, die dieses Wort gehört haben und daran Schaden genommen haben: Der eine hat sich zu sehr in dieses Wort verliebt und ist aus der Welt geflohen. Ein Zweiter hat es in Verwirrung gestürzt. Ein Dritter wurde rücksichtlos, weil er meinte, nun alles zu dürfen. (6)

Ich lerne gerade, diese Stimme in mir neu zu hören.


Photo (c) dina3 | photocase.de
(1) Genesis 1, 31
(2) Psalm 139, 14
(3) Goethe. Faust Teil 1
(4) Rudolf Dreikurs: Grundbegriffe der Individualpsychologie
(5) Rudolf Dreikurs: Grundbegriffe der Individualpsychologie
(6) The Lessons of the Four Who Entered the PaRDeS by Rabbi Ariel Bar Tzadok