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Linse vor der Linse 2 (c) nild | photocase

Auf dass Du lange lebest in dem Land

Was war das für ein Vater? War er ein jähzorniger Mensch, der leicht aus der Haut fuhr? In dessen Umgebung niemand so richtig sicher war? Oder war er ein pedantischer Vater, der jeden Fehler unbarmherzig hochhob? Oder war er eher ein harmoniesüchtiger Mann, der jedem Konflikt aus dem Weg ging und sie gerade deswegen beschwor? Oder war es doch ein richtig guter und liebevoller Vater? Wir wissen es nicht. Wir können nur vermuten, ob Jesus einen biblischen Vater vor Augen hatte und welcher es gewesen sein könnte.

Wir sehen nur die Reaktion des Sohnes: Er ist fertig mit dem Vater. Er fordert sein Erbe und will nichts mehr mit dem Vater zu tun haben. Er zieht in ein fernes Land, aber nicht in irgendein exotisches Land voller Abenteuer und Vergnügen. Er zog in einen Raum zwischen zwei Orte, bestenfalls in die Provinz, eher in ein Niemandsland. So wie Kain, der erste Verlorene Sohn in das Land Nod zog, das Land des Herumwanderns und Herumirrens.

Ist das vielleicht der eigentliche Grund, warum Jesus dieses Gleichnis erzählt? Ein Sohn hasst seinen Vater und zieht in ein fernes Land. Weil er nicht länger in diesem, seinem Land leben kann. Weil er nicht länger in seinem Land leben darf. Denn so erzählt das Gebot: “Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.” Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn ist somit eine lebhafte Illustration des vierten Gebotes: Ein Sohn, der seine Eltern nicht ehrt, wird das Land, sein Land verlassen. Es verlassen müssen. Aber es ist mehr: dieser Sohn wird in der Ferne zugrundegehen. Vielleicht ist es ein schleichender, zunächst kaum sichtbarer Tod: Der Sohn lebt nicht mehr, das heisst, er bringt nichts Neues mehr hervor. Er lebt nur noch von seinen Reserven, bis er sich selbst verbraucht hat. Erst als er zurückkehrt zum Vater und ihn damit anerkennt und ehrt, hat er wieder eine gewisse Chance, dass er wieder aufleben und produktiv sein kann. Und da der Vater ihn aufnimmt, erfüllt sich diese Chance auch.

Dabei ist es doch gerade dieses Gebot, das als Einziges eine Verheißung hat: Dass Du lange leben wirst in dem Land, dass Dir der Herr, Dein Gott geben wird. Wenn ein Kind aufwächst, dann kann es in der Gewissheit leben, dass das Alles, was seinen Eltern gehört, zu einem Teil einmal ihm gehören wird. Ja, dass das Alles, ja schon jetzt ihm gehört, weil es ihm zugute kommt, er es benutzt, damit spielt. Ohne Frage wird ein Kind (in einer normalen Familie) in einer Angemessenheit um etwas bitten können, einfach nur um damit Spass zu haben. Das Kind kann darüber nicht frei entscheiden darüber verfügen, wie und wann es will. Aber alle diese Dinge gehören ihm schon. Er ist der Besitzer, aber nicht der Eigentümer.

Dann braucht das Kind aber Geduld, es muss warten, bis es seinen Teil von den Eltern erben kann. Es kann nichts dafür tun, um es zu beschleunigen. Das Kind empfängt das Erbe zu einem Zeitpunkt, den es weder selbst noch die Eltern wissen kann. So wie das Verheissene Land von Gott gegeben und nicht genommen werden kann.

Dabei gibt es Eltern, bei denen das Warten auf das Erbe leichter fällt, ja wo der Tod und Verlust ein so großer Schmerz ist, dass der Sohn oder die Tochter viel lieber auf das Erbe verzichteten, wenn die Eltern dafür ewig lebten. Und dann gibt es Eltern, mit denen es so unerträglich ist, dass man das Erbe und damit irgendwie auch deren Tod kaum abwarten kann. So war es jedenfalls beim Verlorenen Sohn.


Photo: Linse vor der Linse 2 (c) nild | photocase