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photo (c) french_03 | photocase.de Kain war ein Flüchtender. Er irrte in den großen Öden herum, die an die Städte angrenzten. Er wanderte auf menschenleeren Wegen, die lange nicht benutzt worden waren. Er fürchtete sich in eine Stadt hineinzugehen – aus Angst, dass sie ihn töteten. Kain zog von Fleck zu Fleck, ohne eine Heimat zu finden.

Es war in einer Welt, in der die Menschen mühselig den kargen Boden bearbeiteten, aber solange sie auch schufteten: Nie bekamen sie genug. Nie wurden sie satt. Nie fanden sie Ruhe. Dieses Jahr war es besonders schlimm. Wären nicht schon die Dornen und Disteln alleine genug, so brannte eine große Dürre alles nieder: Eine große Hungersnot breitete sich aus. Wie sollten sie Fremden etwas abgeben? Sie hatten selbst doch kaum genug. „Hau ab!“, schrien sie, wenn ein Fremder kam: „Ich kann dir nichts geben!“ Solange der Fremde noch etwas besaß, solange durfte er bleiben. Aber wehe, wenn auch seine letzte Habe ausging!

Kain war so ein Fremder. Die Dürre hatte ihn ausgelaugt. Er hatte keine Wahl: Er musste nun in eine Stadt, wollte er nicht verhungern: „Ach, wenn ich nur den kleinsten Biss, das kleinste Bisschen haben könnte! Und wenn es nur die Reste vom Schweinefutter wären!“ Die Menge der Menschen baute sich vor ihm wie eine Mauer auf: „Du bist ein Fremder! Warum sollten wir dir helfen? Hau ab! Hau ab! Geh doch dorthin, wo du herkommst!“ Die Worte flogen scharf wie Steine um seine Ohren: „Es war Hungersnot. Sie hatten nichts. Und jetzt will dieser Fremde hier alles haben?“ Die Menge wurde wütender. Sie schrien. Ihre Worte schlugen auf Kain ein. Aus Worten wurden Steine: Erst flogen die Worte, dann flogen die Steine. Sie peitschten auf Kain ein.

Kain spürte diese Schläge kaum. Er schaute auf sein Mal. Es schien, als ob es auf seiner Haut brannte. Es pochte. Jedes Pochen erinnerte ihn die Worte Gottes: „Wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden.“ Die Wut wuchs schlug in ihm hoch. Er sprang hoch, stürzte auf die Menge und tötete einen nach dem anderen. Und wenn er doch verflucht war: Dieses Mal beschützte ihn.

Kain war ein Flüchtender. Einer, der umherzog und doch nie eine Heimat fand. Er war der erste Verlorene Sohn. Was war passiert, dass es soweit kommen konnte?


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Diesen Blogpost formatiert mit Fußnoten lesen: André Springhut: Das Kainsmal