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Spottlieder

Was für ein Bastard muss ich sein, dass da niemand ist, der nach mir fragt. Hancock

Die Stimme zischte diffus an Adams Herz wie eine Spur im Sand, die der Sand verweht. Die Worte waren so wenig greifbar und entglitten immer wieder im Versuch, sie zu fassen. Und doch bissen sie giftig. „Erbärmlich. Versager. Nie wieder wird es gut in deinem Leben.“ Hoffnungslos sackte er zusammen auf dieser kargen Scholle, auf der er arbeitete und arbeitete und doch reichte es nie zum Leben.
Adam war abgeschnitten vom Paradies und damit von all dem, was paradiesisch war in seinem Leben: Lebenssinn, Sattheit, Wärme, Frieden und vor allem: von Gemeinschaft. Wenn Einsamkeit schon in einer paradiesischen Welt eine Katastrophe ist, was ist es erst in dieser Welt? In Adam breitete sich ein tiefes Gefühl von Versagen, Scham und Minderwertigkeit aus. Sein Herz war wie ein Zuchthaus, wie ein Gewächshaus, wo Wut, Zorn und Bitterkeit wie Setzlinge heranwuchsen. Die Wilden Kerle waren geboren.

Adam schüttete sein Herz über seine Kinder aus:

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Vergänglichkeit, Hauch, Nichtigkeit nannte er seinen zweiten Sohn. Weder Kain noch Abel konnten ihren Mangel in Worte fassen. Sie wussten nichts von einem Leben in paradiesischer Gemeinschaft. Ihnen blieb nur eine Sehnsucht, deren Ziel sie nicht kannten – und der Spott des Vaters.1

Sie stritten, um sich zu beweisen.

Die Wilden Kerle wie Setzlinge in ihr Herz gepflanzt wuchsen heran und entfesselten sich.

Sie mordeten sich.

Was vom Paradies übrig blieb, war tiefes Gefühl der Minderwertigkeit und der Entmutigung. Ein Spottlied zog nun durch die Welt: „Faulpelz, Drückeberger, wo bleibst Du? Du wirst noch ganz wie der Vater!“

Der Mangel an Gemeinschaft führt zu einem Gefühl der Minderwertigkeit und der Entmutigung. Dies gilt in Bezug auf die kleinste Gruppe wie auch auf die Größte. Ein Kind empfindet sich nicht als vollwertiges Mitglied der Familie. Ein Schüler ist Außenseiter in einer Klasse. Ein junger Mensch bekommt keinen Ausbildungsplatz und verpasst den Anschluss an die Gesellschaft. Diese fehlende Gemeinschaft und Teilhabe kann mehr oder weniger tief sein, sie kann mehr oder weniger real oder auch nur empfunden sein. Was bleibt, ist dieses Spottlied, das einer über den anderen in immer neuen Strophen und Variationen aussingt. Die Wilden Kerle werden zu Riesen. Wut, Zorn, Bitterkeit, Eifersucht, HabenWollen und viele mehr werden übergroß und überwältigen die Menschen. Sie setzen eine Welt in Flammen.

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Die Wilden Kerle versprechen einen Ausweg aus dem Gefühl der Minderwertigkeit, um einen Menschen dann umso mehr bezwingen zu können.2

Es wird von Menschen erzählt, die in ein Herz schauen können und den Ursprung der Sünde bis hin zu Adam sehen können. Sie durchschauen das falsche Versprechen der Wilden Kerle. Was sehen sie? Können sie das Spottlied hören? Fühlen sie die tiefe Entmutigung? Spüren sie den Mangel an Gemeinschaft und die Entwurzelung? Sehen sie einen Vater, der nicht da ist, wo er sein sollte? Sprechen sie deswegen davon, dass einer kommen muss, damit sich die Väterherzen den Kindern öffnen? Kennen sie ein neues Lied?

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* Zeichnungen von Vanessa Bothe, meine Schwester.

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