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André Springhut Sand, der verweht

Wie ein Staubkorn im Wind

[ Blogpost formatiert mit Fußnoten lesen: Wie ein Staubkorn im Wind ]

Wie? Wie ein Staubkorn im Wind, das verweht. Wie Getreide, das in die Luft geworfen wird und vom Winde zerstreut wird. Wie die Saat auf dem Wege, die keinen Halt findet. Die Vögel unter dem Himmel fliegen hin und fressen sie auf.

Wie? Wie ein Mensch, der voller Hoffnung in diese Welt gekommen ist. Dessen Leben eine Saat ist, die keinen Halt gefunden hat und vom Sturm aufgewirbelt wird.

Wie? Wie der Landvermesser, der zum König aufs Schloss gerufen wurde und ihn nicht finden kann. Wie einer, der durch die langen Gänge irrt und niemanden findet, der ihm hilft. Die er findet, weisen ihn feindselig ab1.

Wie? Wie ein Sisyphos, verflucht, wann immer er den Felsbrocken den Berg hinaufschafft, stürzt er zugleich wieder in die Tiefe.

Wie? Wie ein Mensch, ganz in Schwarz gekleidet, dem es ekelt, weil er so sehr spürt, dass er existiert und genau das nicht ertragen kann.2

Wie? Wie ein Mensch, der irregeht in der Wüste auf ungebahntem Wege und der keine Stadt findet, in der er wohnen könnte. Wie einer, der hungrig und durstig ist und dessen Seele verschmachtet. Wie einer, der voller Ängste ist3.

Wie? Wie ein Mensch, der in diese Welt geworfen wurde, aber in ihr weder Platz noch Raum findet.

Wie? Wie ein Mensch, der rastlos und ruhelos ist. Wie ein Umhergetriebener und Flüchtender, dessen Leben keine Frucht bringen wird. Wie ein Mensch, der schutzlos den Bestien und den Anderen ausgeliefert ist.

Wie ein Vertriebener im Lande des Flüchtens und Herumirrens jenseits allen, was wohlgefällt, so war das Leben des ersten Sohnes, Kain.

Es war einmal ein gewisser Mensch, der hatte zwei Söhne. Und der Ältere von ihnen sprach zu dem Vater: „Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht.“ Und der Vater teilte Hab und Gut unter sie. Und nicht lange danach sammelte der ältere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land.4

Das ferne Land, in das er zog, war allerdings kein schönes Land, kein Paradies. Das Land hatte noch nicht einmal einen Namen. Dieses Land lag einfach nur jenseits: jenseits allen Guten. Jenseits allen Wohlgefallens5. Das Land lag jenseits von Eden. Dieses Land, das eigentlich kein Land bezeichnet, sondern nur einen Raum, der zwischen zwei Orten liegt6. Dieses Land, dem man fälschlicherweise den Namen „Nod7“ gab, das aber nicht mehr ist als ein Niemandsland.

Es gibt große Fantasiegeschichten über ferne Länder, fremde Welten, größere Galaxien.
Es gibt Utopien, Schlaraffenländer, Länder, in denen Milch und Honig fließen und es gibt… NOD!

Nod ist ein Land, in das niemand will
und doch so viele fliehen.
Nod ist ein Land, das niemanden kennt
und jedem das Gesicht nimmt.
Nod ist ein Land, in dem man einsam ist,
obwohl man dorthin kam, um endlich wieder Nähe zu spüren.

Nod ist ein Land, in das all die verlorenen Söhne und Töchter zogen,
weil niemand sie festhielt,
niemand sie im Arm hielt, niemand sie für kostbar hielt.

Nod ist das Land, in das die Tochter floh, als sie es nicht mehr ertragen konnte, innere Distanz zu spüren.
Auf der Suche nach Liebe, auf der Suche nach Nähe, auf der Suche nach einer Definition des Glücks….
ging sie schlussendlich verloren.
Nod lässt dich dich nicht finden.
Nod zeigt dich dir nur auf-
Nod zeigt dir deine eigene Unzulänglichkeit,
Nod zeigt dir deine eigene Fehlbarkeit,
Nod lässt dich nachdenken, umdenken.8
[ Text von Janina Dück ]
Kain blieb im Niemandsland. Keine Spur führte ihn wieder zurück in das Land seines Wohlgefallens. Trotzig stelle ich ihn mir vor. Albert Camus beschrieb Sisyphos so, als einen solchen Menschen: Rebellierend gegen sein Schicksal, nicht einlenkend oder nachgebend. Er beschrieb den Menschen als einen Wanderer in der Wüste, der den Sprung aus der Wüste in den Glauben hinein nicht wagen will, nicht wagen darf. Gäbe es einen Ausweg, sich mit Gott und seinem Vater wieder zu versöhnen, Kain wird ihn nicht versuchen, wie sehr er auch leidete9.

Trotzig lehnte Kain sich auf gegen den Fluch Gottes, so wie Rashi ihn verstand: „Du hast keine Erlaubnis an einem Ort zu wohnen und zu verweilen!“10 Eine ganze Stadt baute er auf, um einen Wohnort zu haben. Haus für Haus reihte er aneinander, dass sie ihn halten, Mauern zieht er um sie herum, dass sie ihn bergen könnten. Was sollte er auch tun? Als Ackermann wird er der Erde keine Frucht mehr abringen können, als Hirte wie sein Bruder wollte er wohl kaum arbeiten. Aber je größer die Stadt wurde, je ruheloser wurde sie. Bis heute sind Städte das Symbol der Rast- und Ruhelosigkeit, als ein Ort, der niemals schläft.

Unstet und flüchtig war Kain auf Erden. Wenn er den Acker bebaute, gäbe er ihm seinen Ertrag nicht mehr.11 Dieser Fluch traf auch seine Nachkommen: Als Ackermänner konnten sie nicht arbeiten, so wurden sie Viehhirten, Flöten- und Zitherspieler, Erz- und Eisenschmiede. Einige sagten, dass sie eine gewaltige Zivilisation aufbauten, die unsere Erde an den Rand brachte12.

Und so war es dann auch: „Jede Stunde, jeden Tag ihres Lebens hatten sie nur eines im Sinn: Böses planen, Böses tun.“13 Sein fünfter Nachkomme Lamech fing an, sich zwei Frauen zu nehmen14. Rastlos konnte er auch bei einer Frau keine Ruhe finden. Konnte Kain seinen Zorn gegenüber seinem Bruder schon nicht bezwingen, so rastete Lamech schon bei der kleinsten Gelegenheit aus. Trotzig, seine Faust gegen Gott schwingend, rief er aus: „Einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine Beule. Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal.“15

Am Ende war es genug. Voller Verderbtheit, voller Frevel war die Menschheit. Gier und Mordlust hatten sich in sie hineingefressen, wie ein Wurm in einen faulen Apfel. „Das tat Gott weh, und er bereute, dass er sie erschaffen hatte.“16 – die Flut kam, sie fast ganz und gar zu vernichten.

Kain war der allererste Flüchtling. Sein Leben verstreute sich im Wind. Seine Nachkommen wurden ausgelöscht. „Zurecht!“ könnten wir sagen. Ein Mörder war er, der seinen Bruder erschlagen hatte. Einer, der vom Bösen stammte. Einer, der seine gerechte Strafe empfing.

Aber ist das alles, was wir über Kain sagen können? Gibt es da keinen zweiten Blick, den wir auf ihn werfen können? Wie konnte es soweit kommen? Was können wir über diesen ersten verlorenen Sohn noch sagen?

Kain war als Sohn der Hoffnung geboren…

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