Seite wählen

GEERDET

Zu dem Mentschen werden, der in guter Weise damit umgeht, was ihm anvertraut ist. Das ist die Frage, um die es in dieser Serie geht. Was für Gefahren lauern auf dem Weg dahin und wie kann man diese Klippen umschiffen? Das ist das Thema, was mich seit einigen Wochen beschäftigt. Ich glaube, dass es für den Anfang des Jahres das entscheidende Thema ist. Achte auf die Blogreihe „Ein Mentsch werden“

Im Folgenden will ich mich auf drei Gefahren beschränken, die Rabbi Tzadok nennt. Das erste, was er uns mitgibt, lautet: Heirate!

Rabbi Tzadok legt eine bekannte Geschichte aus dem Talmud aus. (Dass sie uns nicht bekannt ist, liegt an dem Versäumnis, sich nicht mit unseren Wurzeln auseinanderzusetzen.) Diese erzählt von 4 Rabbinern, die in die Gegenwart Gottes traten oder in das Paradies. Einer davon starb. Einer davon wurde wahnsinnig. Einer fiel vom Glauben ab. Nur einer kam unbeschadet wieder zurück. Alle vier Rabbiner waren berühmt und der Talmud erzählt einiges über sie. Detailliert schildert Rabbi Tzadok nun, was schief gegangen ist.

Der erste Rabbi, Ben Azai, war ein sehr gottesfürchtiger Mann. Ihm waren das Wort Gottes und das Studium so wichtig, dass er vieles andere darüber vernachlässigte. Er heiratete nicht. Er sagte: „Andere können sich darum sorgen, dass es in dieser Welt weitergeht.“ Seine Sorge war das Wort Gottes. Darin war er ein Vorbild. Als er nun in die Gegenwart Gottes, umschrieben mit Paradies, trat, da war er so überwältigt und so vergiftet. Das war sein Platz. Er wollte nicht mehr zurück und er starb.

Nun könnte man sagen: Was ist daran falsch? Und in einer gewissen Weise ist das der Zwiespalt, in dem wir stecken. Wir alle kennen Menschen, die in einer extremen Weise für eine Sache leben und manchmal machen sie uns ein schlechtes Gewissen. Wir denken, dass wir so wie sie sein müssten und in der Tat ist es gut, dass sie uns ein Ansporn sind. Und doch spüren wir, dass irgendetwas merkwürdig ist, aber wir können es nicht in Worte fassen. So leben wir bestenfalls mit unserem schlechten Gewissen und im bösen Fall töten wir sie.

Rabbi Tzadok sagt: Es ist tatsächlich etwas falsch an diesen Menschen, denn das Wort aus dem Talmud ist uns zur Mahnung gegeben. Er kann das Falsche in Worte fassen: Diese Menschen haben den Bezug zur Welt verloren. Sie sind nicht mehr geerdet. Sie stehen nicht mit beiden Beinen im Leben – und weil sie nicht mit beiden Beinen im Leben stehen, können sie umgerissen werden. Ich habe schon länger ein Problem mit dem Licht an meinem Fahrrad. Es ist alles in Ordnung. Alle Kabel unbeschädigt und die Glühbirnen intakt und doch hat das Rücklicht nicht genügend Masse – und deswegen leuchtet es nicht. Wir brauchen diese Masse, diese Erdung im Leben, damit wir leben können.

Rabbi Tzadok führt als Beispiel an, dass Ben Azai nicht geheiratet an. Eine Ehe hätte ihm – vielleicht – die nötige Erdung geben können. Deswegen das Wort am Anfang: Heirate! Aber ob man verheiratet ist oder nicht, das ist nicht der Punkt. Die Frage ist: Haben wir überhaupt Menschen in unserem Leben, die eine Bedeutung für uns haben? Haben wir gute Freunde? Haben wir soziale Kontakte? Pflegen wir die Beziehung zu unseren Verwandten? Je weniger Beziehungen wir haben, desto abgehobener, merkwürdiger und schrulliger sind wir. Und tatsächlich ist es so, dass wir unsere sozialen Kontakte umso sorgfältiger planen müssen, wenn wir nicht verheiratet sind.

Wir alle kennen das Bild vom Wissenschaftler, der im Elfenbeinturm lebt. Wir alle kennen Menschen, die so sehr in ihrer Welt versunken sind, dass sie jeglichen Bezug zur Realität verloren haben. Das Extrembeispiel ist der Computerjunkie, der Tag und Nacht in seiner World of Warcraft verbringt und keinen Kontakt zur Außenwelt mehr hat. Nur weil sich jemand mit geistlichen oder christlichen Dingen vertieft, heißt es ja nicht, dass er sich nicht dabei verlieren kann. Es ist nur schwerer zu durchschauen, weil diese Menschen eben wie Ben Azai als Vorbilder in unserer Gemeinde gelten. Wir haben das schlechte Gewissen, dass wir so sein sollten wie sie.

Es geht nicht darum, andere Menschen zu richten, sondern sein eigenes Leben zu hinterfragen: Wieviele und welche Menschen haben Bedeutung in unserem Leben? Je weniger Menschen es sind, desto stärker ist die Gefahr, dass wir abgehoben, merkwürdig und schrullig werden.

Aber es ist nicht alleine die Anzahl der Menschen entscheidend. Wir können wunderbar in einer zahlreichen Gemeinschaft eine Subkultur bilden. Subkulturen haben ja ja oft etwas von diesem Merkwürdigen und Schrulligen. Gemeinden oder Gemeinderichtungen können ihre Eigenarten herausbilden und nicht mehr bemerken, wie schrullig sie dabei geworden sind. Je mächtiger ein Chef ist, desto mehr ist er nur noch von Ja-Sagern und Menschen umgeben, die ihn bestätigen. Er merkt gar nicht, dass er vielleicht in einer Scheinwelt lebt und die Welt da draußen sich schon lange verändert hat. Subkulturen sind Gemeinschaften, die sich gegenseitig bestätigen und die in Gefahr stehen, den Bezug zur Welt zur verlieren. Die Frage ist also nicht nur: Gibt es bedeutende Menschen in meinem Leben. Sie lautet vor allem: Wie verschiedenartig sind diese Menschen? Kommen diese Menschen aus verschiedenen Bezügen? Bestätigen sie Dich nur oder widersprechen sie Dir auch und fordern Dich heraus?

Das gilt für alle Bereiche unseres Leben, nicht für die sogenannten Geistlichen. Ein Mensch, der nur noch für seine Ehe und für seine Familie lebt, läuft genauso Gefahr, sich zu verlieren wie ein Computerjunkie in der World of Warcraft. Wir brauchen bedeutende, verschiedenartige Menschen in unserem Leben.

Man kann an dieser Stelle auch nicht von falsch und richtig sprechen. Manchmal ist es der Preis, dass wir unser Leben verlieren. In einer ungerechten Welt gibt es manchmal keinen anderen Weg, als das einige einen solchen Weg gehen. Wir müssen sie dennoch „Unglückliche“ nennen. Es ist auch nicht so, dass jemand zum Scheitern verurteilt ist, wenn er wenige oder gar keine Menschen in seinem Leben hat. Es sind jedoch erhebliche Risikofaktoren, die es wahrscheinlicher machen, dass sein Leben einmal in eine Krise gerät. Es gibt auch Phasen im Leben, etwa wenn man heiratet, eine neue Firma aufbaut, etwas gründet, da muss man zu 150% mit dieser Sache verhaftet sein. Es gibt dann kein anderes Leben als das. Aus einer Phase darf nur kein Dauerzustand werden (und es ist wirklich schwer von einem 150%-Modus wieder auf ein normales Leben zurückzuschalten.) Für eine Zeitlang kann man sich jedes extreme Verhalten erlauben, man muss nur verstehen, dass es nicht auf Dauer funktionieren kann. Wenn wir das ignorieren, werden wir wie Ben Azai vor unserer Zeit sterben, in eine furchtbare Lebenskrise geraten.

In meinem Studium bei der Akademie für christliche Führungskräfte habe ich vermutlich beim Kurs über die Individualpsychologie (ICL!) ein wichtiges Modell kennengelernt. Das fasst den heutigen Gedanken nochmal gut zusammen. Ein Mensch hat verschiedene Bereiche in seinem Leben: Familie, Beruf, Freizeit, Gemeinde.

Ein Mensch lebt gesund und hat wenig Risikofaktoren, wenn er in allen vier Bereichen Menschen und Aktivitäten hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in eine schwere Lebenskrise gerät, ist sehr gering. Nun ist es so, dass nur wenige Menschen so ein ausgewogenes Leben haben. Die meisten haben Schwerpunkte in einem oder zwei Bereichen und vernachlässigen andere Bereiche ganz. Das ist nicht falsch. Es erhöht nur das Risiko für eine schwere Lebenskrise.

Wenn ein Mensch in den Bereichen Beruf und Familie gut aufgestellt ist, dann gilt er meist als erfolgreicher Mensch und das ist er auch. Was ist aber, wenn er gekündigt wird? Die ganze Last seines Lebens liegt nun in der Familie. Hat die Familie genügend Kraft diese Last für eine Zeit zu tragen oder ist sie damit überfordert? Zerbricht die Ehe an dieser Last? Wir müssen davon ausgehen, dass schwere Situationen immer wieder in unser Leben kommen wie Kündigung, Krankheiten und Ehekrisen … In diesen Zeiten, wo der Sturm an unserem Leben schlägt, merken wir, dass wir ein tragfähiges Netz außerhalb von Familie und Beruf brauchen.

Manchmal lebt ein Mensch nur für seine Arbeit oder nur für seine Familie. Und auch das ist nicht falsch, sondern nur risikoreich. Was passiert, wenn ich das Eine, was ich habe, verliere? Wenn meine Firma umstrukturiert wird und alles, was ich bisher gemacht habe bedeutungslos wird oder ich gar gekündigt werde? Was ist, wenn die Kinder aus dem Haus gehen oder gar die Ehe zerbricht? Ohne ein gutes soziales Netz kann das Leben dann nur in einem Scherbenhaufen enden.

Die Frage ist nicht nur, ob mein Leben jetzt funktioniert, sondern ob es so auch in 20 Jahren noch funktionieren kann. Wir werden nie ein ideales Leben haben, in dem alle Bereiche gut aufgestellt sind. Wir werden immer in Spannungsfeldern leben. Wir können für eine Zeitlang auch extrem leben und manchmal müssen wir das auch. Aber wir sollten die Risikofaktoren in unserem Leben kennen und, wo es geht, auch reduzieren.

Achja: Wir sollten aufhören, Gott die Schuld zu geben, wenn wir uns selbst für ein extremes Leben entschieden haben und es dann in die Brüche geht.

Übung

Das Wort von Rabbi Tzadok und meine Auslegung dazu sind sehr praktisch. Mache es doch ganz praktisch!

Nimm Dir ein DINA3-Blatt und vier große Kreise aus Papier, die zusammen darauf passen. Beschrifte die vier Kreise mit den vier Bereichen: Familie, Beruf, Freizeit, Gemeinde. Nehme etwa 30 Klebepunkte in zwei Farben und mindestens 1cm groß. Du findest das Material in einem Moderationskoffer oder Du bastelst Dir das.

Beschreibe die Klebepunkte mit bedeutenden Menschen (grün) und Aktivitäten (rot).
Ordne diese Punkte den Kreisen zu. Manchmal musst Du Menschen doppelt aufschreiben.

Je bedeutender ein Mensch oder eine Aktivität ist, desto dichter rücke ihn an das Zentrum heran und andersherum.

Je unbedeutender ein Lebensbereich ist, desto kleiner schneidest Du den Kreis.

Wenn Du alles fertig hast, klebe die Punkte auf.

Wo gibt es leere Bereiche? Wo bist Du gut aufgestellt? Was fällt Dir auf?
Willst du es fotografieren und mit mir besprechen? Oder mit jemand anderen?

Manchmal überschneiden sich Lebensbereiche, z.B. bei einem Pastor. Die Gemeinde ist der Beruf. Sind die bedeutenden Menschen in mehreren Bereichen identisch? Wie weit überlappen sich Deine Lebensbereiche? Liegen alle übereinander? Hast Du ein Leben außerhalb Deiner Hauptsache?

Diese Übung wird Dir helfen, die Gedanken von heute in Deinem Leben sichtbar zu machen. Ist alles so Ok? Musst Du etwas ändern? Brauchst Du Hilfe? Wer kann Dir helfen? Welche Schritte sind für Dich dran?

[br]

[br]

[br]

[br]

Bonusmaterial:

Bei Pais bekommt jeder Paisler mindestens alle 2 Wochen ein Mentoring. Aus einer Mentoringeinheit über Balance gibt es hier die Übung: der Sad-Faktor. Wie glücklich oder wie traurig ist Dein Leben? Lade Dir den Test hier als PDF-Dokument herunter!
Schaue Dir doch mal die Website von Pais an und schaue, wie Mentoring das Leben von Menschen verändern kann!


Die ganze Reihe MENTSCH WERDEN – Wie gehen wir in angemessener Weise mit dem um, was uns anvertraut worden ist?
#0 Vier MENSCHEN || #1 FUNKENSCHLAG || #2 DONNERSCHLAG || #3 GEERDET
#4 UNTER STROM || #5 FEUER VOM HIMMEL