Seite wählen

Silvia Klatt Darkness trembles

Gekochte Könige und was wir von Ihnen lernen können

René Girard beschreibt in seinem Lebenswerk auf Tausenden von Seiten den Sündenbockmechanismus. Etwa 1770 Seiten davon habe ich selbst gelesen. Girard sieht im Sündenbockmechanismus den grundlegenden Mechanismus der Menschwerdung: eine Krise ist da. Eine Hungersnot, eine Krankheitswelle, eine Serie von Unglücken. Die Menschen fragen sich: “Jemand muss doch schuld sein?!”

Wir haben das Spiel schon als Kinder eingeübt: Der Plumpsack geht rum: „Dreh‘ dich nicht um, denn der Plumpsack geht um. Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel voll gemacht.“ Wie ein Plumpsack kreisen die Vorwürfe um die Gruppe, versuchen den Einen und den Anderen zu treffen. Aber noch bleibt der Vorwurf nicht so richtig haften. Die Vorwürfe kreisen nun immer schneller. Bis alle Finger auf eine Person zeigen und auch diese Person selbst einknickt und sich schuldig bekennt – und dann wird er getötet. Das ist wichtig bei einem Sündenbock: Alle müssen sich einig sein, auch der “Schuldige”, damit die Gruppe danach ohne Schuld dastehen kann. Damit keiner aus der Gruppe den Tod des Sündenbocks rächen will.

Wehrlose und Außenseiter sind für diese Rolle besonders gut geeignet. Deshalb wird die alte Frau am Rande des Dorfes in der Hungersnot zur Hexe erklärt, die kleine Kinder frisst und zurecht brennen muss. Dieses Märchen glauben wir bis heute*. Deshalb wird so gerne geglaubt, dass die Juden an allem schuld sind.

Aber nicht immer bekommt man so schnell einen Sündenbock her. Was ist, wenn eine Krise eintritt und es lässt sich einfach keinen Sündenbock finden? Man müsste sich doch einen Sündenbock auf Vorrat legen können, sozusagen in den Kühlschrank, um ihn zur rechten Zeit feuern und kochen zu können.

Deswegen wurden vor langer Zeit Könige zum Kochen erfunden, so sagt es René Girard: Die Gruppe bestimmt sich einen König und seine einzige Aufgabe ist es, sich möglichst viel herauszunehmen. Gibt es eine Regel, so soll er sie brechen. Er soll sich so viele Privilegien herausnehmen, wie nur irgendwie möglich. Je ungeheurer desto besser.

Das geht solange gut, wie alles gut geht. Dann aber kommt die Krise – und “auf einmal” merken alle, was der sich die ganze Zeit herausgenommen hat. Und bei so vielen Sünden ist er offensichtlich der Schuldige an der Krise. Also her mit dem Kochtopf, rein mit dem König.

Die Menschen heute sind zivilisierter geworden. Sie töten ihre Sündenböcke nicht mehr so offensichtlich. (Aber auch das geschieht auch heute weltweit noch täglich zu Dutzenden, Hunderten oder sogar Tausenden). Heute wird ein Sündenbock nur noch gefeuert. Heute haben wir keine Könige mehr, sondern Leiter und Chefs, aber der Mechanismus funktioniert genauso. Wir machen Sie zu unseren Chefs, gestehen ihnen viel mehr Geld und Privilegien zu. Wir wollen geradezu, dass sie sich etwas zu viel herausnehmen. Damit wir sie feuern können, wenn wir einen Schuldigen brauchen. Damit wir nicht sagen müssen: “Ich war’s.”

Was wir von gekochten Königen lernen können: Wir dürfen uns nicht verführen lassen, wenn die Gruppe uns als Leiter und Chef extra Privilegien zugesteht. Wir dürfen uns als Leiter keine schlechten Marotten, Angewohnheiten und Sünden leisten, die die Gruppe nur deshalb duldet, weil wir der Chef sind. Wir dürfen uns auch kein übermäßiges Gehalt genehmigen. Alle diese Dinge werden in der Krise das Brennholz sein, mit dem wir (in einem Kochtopf) gefeuert werden.

Über den Sündenbockmechanismus gibt es noch viel zu sagen. René Girard braucht dafür viele Tausend Seiten. Für mich ist Hiob mein Held, weil er vermutlich der erste Mensch ist, der diesen Sündenbockmechanismus durchbrochen hat. Für Girard ist das eine wesentliche Bedeutung des Kreuzes, dass es diesen Mechanismus zerbrochen hat, weil ein offensichtlich Unschuldiger ermordet wurde. Seitdem hat das Opfer eine Stimme. Aber dazu (viel) später mehr – oder in den Büchern Girards.


Bild von Silvia Klatt: Darkness trembles

* Die Hexe in Hänsel und Gretel war keine Hexe – und sie wollte die Kinder auch nicht fressen. Auch dieses vertraute Märchen beginnt mit einer Krise, der Hungersnot. Und wieder einmal hat die aufgebrachte Menge einen Schuldigen gesucht: Wenn es drunter und drüber geht und wir hungern, so muss es doch jemanden geben, der gesündigt hat und Schuld hat. Und sie machen eine Frau dafür aus, vermutlich eine Aussenseiterin, eine Witwe vielleicht, die sich nicht wehren kann. Vielleicht eine, die ihre Kinder verloren hat und sich ohne Mann und Kinder erst recht nicht wehren kann. Und der Tätermob mordet diese Frau und erfindet diese Lügengeschichte von der Hexe und dem Ofen. a.springhut.de/rene-girard-2/