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In den letzten Tagen habe ich einen Satz gehört, der sich verführerisch wahr anhört: „Der Mensch ist kein Wesen, das eine spirituelle Erfahrung macht, sondern ein spirituelles Wesen, das eine weltliche Erfahrung macht.“

Dem möchte ich widersprechen.

Ich möchte dem widersprechen mit einer jüdischen Geschichte, die mich lange beschäftigt hat. Zuvor will ich allerdings erklären, wie wir dazu kommen, das zu glauben. Dabei werden wir sehen, dass wir in einer widersprüchlichen, zerrissenen Kultur leben. Ein Wunder, dass wir so leben können.

Dass wir ein spirituelles Wesen sind, das eine körperliche Seite hat, ist ein Virus, den wir uns in den ersten Jahrhunderten des christlichen Glaubens eingefangen haben. Es sind griechische Philosophen, die die Kirchenväter beeinflusst haben: Das Geistige ist das Eigentliche und das Körperliche irgendwie … überflüssig … eine Plage … etwas Wurmhaftes … wir sind Wesen in einer dunklen Höhle. Jean-Paul Sartre, ein Philosoph des 20. Jahrhunderts drückte es so aus: Wir ekeln uns vor unserer eigenen Existenz.

Die platonische Liebe ist dafür etwas Zeichenhaftes: Statt dass man sich liebt mit Haut und Haaren, verbinden sich da (nur) zwei Seelen miteinander. In der Folge dieses griechischen Denken entwickelte sich im Christentum in eine Leibfeindlichkeit, die manchmal in eine Weltabgewandtheit und Weltflucht mündet.

Einerseits ist der Körper für uns etwas Nichtiges, Flüchtiges, ja sogar Ekliges. Auf der anderen Seite ist der Körper für uns Alles. Alles, was wir haben. Denn mehr haben wir nicht mehr. In Seminaren frage ich manchmal, wer der einflussreichste Theologe Deutschlands (und damit oft genug der Welt) war. Luther wird dann genannt, Bonhoeffer, Zinzendorf, in meinen Kreisen ja eher weniger Barth oder Bultmann. Tatsächlich ist es aber Immanuel Kant, der unseren westlichen Glauben wie kein anderer geprägt hat: Wir sind hier auf der Erde und Gott ist im Jenseits, unerreichbar. Er ist bei Kant noch da, aber fern von uns. Da ist keine Verbindung vom Menschen zu Gott. Wer so etwas glaubt, ist nicht weit davon zu sagen: Gott ist tot. Ein solcher Gott ist bedeutungslos.

Seit Kant ist die Welt geschieden in eine diesseitige, wahrnehmbare Seite und eine jenseitige, Unerreichbare. Irgendwann war es dann so, dass man alles Geistige in eine Kiste gepackt und auf einen staubigen Dachboden gestellt hat.

Wie können wir eigentlich in unserer Kultur leben, ohne zu zerreißen? Eine Kultur, die einerseits alles vergeistlicht und auf der anderen Seite alles verkörperlicht?

Alles zu verkörperlichen, nur noch den Körper zu sehen und nicht mehr den Geist, ist offen gesagt … dumm: Ein Kind nur als einen Körper zu sehen, der zu funktionieren hat und ihm die eine oder andere Tablette zu geben, wenn er nicht mehr funktioniert. Etwa, wenn es hyperaktiv ist. Es ist dumm, Menschsein nur auf diese irdische Existenz zu begrenzen. Da ist soviel mehr im Geistigen, Jenseitigen, Übernatürlichen und Zukünftigen.

In einer alten jüdischen Geschichte wird von vier Männern geschrieben, die in das PaRDeS eintraten. Ich habe über diese Geschichte ausführlich in der Reihe MENTSCH WERDEN geschrieben. PaRDeS meint das Paradies. Die Gegenwart Gottes. Einen übernatürlichen Raum. So ganz klar ist das nicht. Für jetzt reicht es PaRDeS als Begriff für das Geistige zu nehmen. Der Erste der vier Männer, die dort eintraten, war so losgelöst von der Welt, so abgewandt von ihr und so verliebt in das Geistige, dass er starb als er in das PaRDeS eintrat: Er wollte nicht mehr zurückkehren. So deutet es der Rabbi Ariel Bar Tzadok. Er sagt aber auch: Diese Geschichte ist uns als Warnung gegeben. Dieser erste Mann hat etwas falsch gemacht, auch wenn seine Handlung noch so spirituell erscheint. Dieser Mann hatte einen Auftrag in der Welt. Er hat ihn versäumt auszuführen. Mit seiner Weltflucht ist etwas verloren gegangen.

Wir singen: „Ein Tag bei Dir ist besser als Tausende anderswo“, so wie es auch im Psalm 84 steht. Und das ist wahr: Die Gegenwart Gottes ist schöner, besser als irgendetwas anderes in dieser Welt. Dieses Lied drückt die Sehnsucht nach diesem Ort des Friedens aus. Aber so groß unsere Sehnsucht nach diesem Frieden, dem Shalom, also dem umfassenden Heil in uns ist und so sehr wir, Jesu sei Dank, immer wieder an diesen Ort kehren dürfen: Es ist NOCH falsch an diesem Ort bleiben zu wollen, ihn zu sehr zu suchen und diese Welt als ein lästiges Übel zu betrachten. Wir haben ein Auftrag in dieser Welt und dieser Welt geht es verloren, wenn wir uns zu sehr von ihr abwenden.

Petrus hat eine PaRDeS-Erfahrung gemacht, als er mit Jesus, Moses und Elia auf dem Berg war und es ist definitiv das Beste, in der Gemeinschaft dieser drei Männer Gottes zu sein. Petrus war elektrisiert und wollte eine Hütte bauen und musste doch in das Tal zurückkehren. Da war ein Auftrag zu erfüllen für Jesus und ihn.

Es ist Jesus, der in diese Welt hineingegangen ist und der alle Privilegien der himmlischen Welt verloren hat. Was ihm geschehen ist, ist soviel widerwärtiger als der Himmel. Und doch trat er in diese Welt, entäußerte sich und mehr noch wurde er hingerichtet. Jesus hatte einen Auftrag. Er hat ihn ausgeführt. Er ist zur rechten Zeit zurückgekehrt.

Das jüdische Volk war für eine lange Zeit in der Verbannung, im Exil, in Babylon. Wenn wir verstehen, dass wir nicht nur Körper sind, sondern auch Geist, dann mag uns dieses Leben als Exil vorkommen. Als einen Ort, an dem wir eigentlich nicht hingehören. Dem jüdischen Volk wurde aber gesagt: „Suchet der Stadt Bestes!“.

Dass wir in dieser Welt leben, ist keine Notlösung. Es ist auch keine Zwischenetappe, die es so schnell wie möglich zu überwinden gilt. Diese Welt ist der Ort, an dem wir leben sollen, mit Haut und Haaren. Wir sollen uns ganz auf sie einlassen und danach suchen, unseren Auftrag zu erfüllen. Wir sollen der Stadt Bestes suchen. Wir sind das Salz und Licht der Welt und wir nützen nichts, wenn wir nicht salzen und leuchten. Wir haben einen Auftrag, meistens dort, wo wir gerade stehen: in der Familie, am Arbeitsplatz, in unserem Umfeld.

Wer sind wir eigentlich? Wir sind Wesen, die eine Heimat haben, die schöner und besser ist, unvorstellbar besser ist als diese Welt. Wir werden einmal in diese Heimat zurückkehren. Das wissen wir auch, gerade wenn wir Gott leugnen und nach dem Warum und dem Leid dieser Welt schreien. Wir wissen, dass wir in eine bessere Welt gehören.

Und doch sind wir Wesen mit Haut und Haaren, die in diese Zeit und ganz und gar in diese Welt hineingehören. Wir haben einen Auftrag, den wir nicht schnell-schnell abhaken sollen.

Zum Schluss: Genauso wie wir in diese Welt hineingehören, so ist die Gemeinde Gottes für diese Welt bestimmt. Unsere Bestimmung ist es nicht, eine immer größere Gemeinde, mit einem immer schöneren Gebäude und einem immer volleren Terminkalender zu bauen. Die Gemeinde ist kein Ort, an dem wir das Trübsal dieser Welt überleben sollen, bis wir an jenen anderen Ort gelangen. Die Gemeinde ist nicht für sich zu verstehen und nicht für sich da. Die Gemeinde hat einen Auftrag für den Ort, an dem sie gestellt ist. Sie ist nicht das Ziel an sich, sondern hat Ressourcen und Möglichkeiten bekommen, um an ihren Ort zu wirken. Genauso ist sie das Salz und Licht dieser Welt und genauso ist zu fragen: Wozu ist das Salz nützlich, wenn es nicht salzt?